Mittelalter in der Neuzeit

von Johannes Fähndrich

Was haben wir heute mit den Christen im Mittelalter gemeinsam - was können wir von ihnen lernen? Ein Erlebnisbericht.

Ich bin auf dem „Mittelalterlichen Blütenfest“ der christlichen Lebensgemeinschaft Siloah in Thüringen. Mit unserer Mittelaltergruppe „Porta Vitae“ waren wir schon einige Male hier, haben vor Jahren mitgeholfen, das historische Konzept des Festes zu entwickeln und darüber in der Kommunität Siloah einige liebe Freunde gefunden.

Am Freitagabend fragt mich der Leiter, ob ich am nächsten Morgen seinen ehrenamtlichen Helfern - die in Scharen für das Gelingen des Festes unentbehrlich sind - in einer Andacht eine Einführung ins Mittelalter geben würde. Es geht darum, dass alle Helfer sich in die Zeit ein wenig hinein fühlen, um den Besuchern des Festes ein optimales Flair zu vermitteln - und so einen Boden zu bereiten, um ihnen das Evangelium zu bringen. Ich sage zu.

Aber was sage ich ihnen? Was sage ich ihnen über die weltlichen und geistlichen Grundlagen einer Epoche, die sage und schreibe 1000 Jahre und den gesamten Europäischen Kontinent umfasst?

Ich entscheide mich, bei der Lebenswirklichkeit der mittelalterlichen Menschen zu beginnen. Jeder Mitarbeiter solle sich überlegen, aus welchem Stand er stammt, wie er geboren und aufgewachsen ist. Die Tätigkeit, die er beim Fest ausüben soll, hilft ihm dabei, seine Rolle zu finden. Denn wer etwas organisiert, der wird er aus einer Kaufmanns- oder Verwalterfamilie stammen. Soll jemand beim Fest die Mülleimer ausleeren und für Ordnung auf dem Platz sorgen, so ist er Knecht oder Magd und kommt aus einer Bauern- oder Leibeigenenfamilie. Und diese Herkunft bestimmte das ganze weitere Leben. Ob nämlich man irgendwo ins Stroh geboren wurde, vielleicht von einer alten heilkundigen Frau begleitet oder im Steinhaus in ein Bett, an dem die Heb-Amme diente, die Lebensumstände waren zwar für alle hart – aber dabei auch  sehr unterschiedlich. Die verschiedenen Stände konnten Wand an Wand wohnen, ohne je im Leben ein privates, d.h. nicht durch Dienstaufgaben erforderliches Wort miteinander zu wechseln. Was dabei das Angenehmere war, ist nicht immer leicht zu sagen: ob das Lehmhaus, wo sich im einzigen Raum neben der ganzen Familie mit drei Generationen auch das einzige Schwein und die Ziege befanden - und die Feuerstelle! Oder die Burg, die für uns heute Inbegriff der Ritterlichkeit und Romantik ist und natürlich Herrschaftssitz - aber im Winter auch empfindlich kalt, oft auch nur mit einem beheizbaren Raum, der „Kemenate“ („Kamin-ate“). Von den anderen Räumen wurden deshalb oft die Fenster zugenagelt. Und so war es dann zwar immer noch kalt, aber außerdem noch dunkel und stickig.

Das ist der Lebenshintergrund für unser Kirschblütenfest. Es ist ein Frühlingsfest, wo gedankt wird! Nicht erst zum Erntedank, wenn die Früchte auf dem Tisch liegen, sondern wenn die Bäume Blüten ansetzen, Dank auf Hoffnung hin! Gedankt, dass der Winter vorbei ist!

Bei jedem mittelalterlichen Menschen wären im Verlauf des Winters einige Bekannte und Verwandte verstorben. Einige Alte und einige Kinder. Wer das zehnte Lebensjahr erreicht hatte, der hatte schon einmal etwas geschafft. Danach konnten die Leute durchaus ein gutes Alter erreichen.

Und so feiern die Leute des Mittelalters den Frühling und Gott, der den Frühling schenkt. Aber sie begegnen sich auf dem Markt auch mit allen Standesunterschieden. 

Sie rufen einander zu „Gott zum Gruß!“ und „Seid begrüßt!“ und sie verneigen sich dabei voreinander; umso tiefer, je niedriger ihr jeweils eigener Stand und je höher der Stand des anderen ist. Der Ritter tut die Verbeugung des Knechtes mit einer Handbewegung ab, und der Fürst nimmt sie gar nicht wahr.

Rauhe Zeiten also, und ich ermutige die Freiwilligen, das während des Blütenfestes auch mit weiteren Gesten zu unterstreichen: wem jeweils danach ist, der möge in seiner Rolle auf den Weg spucken oder sich am Hintern kratzen. Das Marktpublikum wird zunächst irritiert sein und es dann als „echtes Mittelalter“ dankbar zur Kenntnis nehmen.

Rauhe Zeiten und rauhe Sitten im Mittelalter - aber gerade darin können wir etwas von unseren Vorfahren lernen, gerade das kann uns Hoffnung geben: dass die Menschen es überlebt haben. Und das Jesus die Geschichte weitergeführt hat. Trotz Völkerwanderungen und Wikingerüberfällen, durch Hungersnöte und Pestzeiten hat Gott den Menschen weitergeholfen - und sie haben das Vertrauen auf ihn bewahrt. Ein jeder von uns hat Vorfahren, die im Glauben auf Gott ihr Leben gemeistert haben; und das gehört zu unserem geistlichen Erbe.

Denn das ist das zweite, das ich den Mitarbeitern des Blütenfestes ans Herz lege. Wir beten miteinander das Glaubensbekenntnis. Im fünften Jahrhundert verfasst und damit schon für die Menschen des Mittelalters uralt überliefertes Glaubensgut – und eine Selbstverständlichkeit.

Jeder mittelalterliche Mensch ging schlicht davon aus, dass die Welt von Gott geschaffen ist. Dass er selber ein Geschöpf Gottes ist, und ebenso alles um ihn herum. Dass er jederzeit von Gott gesehen werden kann und ihm am Ende des Lebens Rechenschaft geben muß.

Gott ist der Schöpfer, heilig, gerecht und gut. Wir Menschen sind unfähig, Seinen Willen zu erfüllen und deshalb verloren. Deshalb ist Jesus Mensch geworden, unser Erlöser, gestorben und auferstanden, der Tod und Teufel die letzte Macht genommen hat. Und wir gewinnen durch Buße Vergebung, geleitet durch Gottes Geist und die Heilige Schrift -  alles das galt im Mittelalter als Tatsache.

Fakten, nicht Meinungen. Das ganze Leben, im Öffentlichen wie im Privaten, war davon durchzogen und wesentlich bestimmt.

Einige Schritte von der Dogmatik in die Lebenspraxis hinein erläutern das: ich lege den Helfern des Blütenfestes ans Herz, sich bei jedweder Gelegenheit zu bekreuzigen. Falls jemand niest, sagt man „Gott schütze dich!“ und bekreuzigt sich. Nach dem (unerlässlichen) Essensgebet - ein Kreuzzeichen. Und wenn man an einer Gabelung den Weg nicht sicher weiß, bekreuzigt man sich auch. Möge Gott uns die richtige Wahl treffen lassen und unsere Wahl segnen!

Auch falls man einen Mönch trifft bekreuzigt man sich. Er sagt dann „Pax Vobiscum“ (Friede sei mit euch) und wir antworten „Et cum spiritum tuo“ (Falls ein Knecht oder Bauer kein Latein kann, was er ja wirklich nicht können muss, murmelt er wenigstens „Etcommmimimibubo“ - das hörts sich ähnlich genug an und macht immerhin einen guten Eindruck.)

Und natürlich gehört zur Eröffnung des Blütenfestes auch die Segnung des Marktes, der Dank und die Bitte an Gott, dass er gelegenes Wetter, Schutz und guten Umsatz geben möge! Auch wenn das leider nur auf wenigen Mittelaltermärkten der Neuzeit so praktiziert wird – bei unseren Vorfahren wäre es so gewesen!

 

Ohne Frage hat es im Mittelalter auch geistliche Fehlhaltungen und Auswüchse gegeben. Es gab irrwitzigen Aberglauben, übertriebene Höllenfurcht und große Tendenzen, Buße und Heiligung als Leistung zu verzwecken. Auch viel Dummheit und Obrigkeitsdenken.

In meiner Andacht für die Helfer mache ich auch das deutlich. Als ich davon spreche, dass jeder von uns im Mittelalter gleich nach der Geburt getauft worden wäre, halte ich inne. Ich mache einen „Schritt zur Seite“ und sage den Zuhörern, dass ich damit meine Rolle verlasse und „in die Neuzeit trete“. Als Baptistenpastor kann ich dieser Taufpraxis natürlich gar nichts abgewinnen. Die Bibel lehrt uns anderes.

Vieles von der Frömmigkeit unserer Vorfahren ist uns mindestens so fremd wie der Glaube Griechisch-Orthodoxer Christen. Aber gerade das ist ja spannend. Und gerade davon können wir auch lernen. Wo wir nämlich unsere Lieblings(stecken)pferde reiten und unsere Frömmigkeit zu neuzeitlich-harmonisch oder individualistisch ist.

Mindestens dieses können wir von unseren mittelalterlichen Vorfahren lernen: harte Zeiten geduldig zu überstehen und den Glauben als selbstverständlich und von Gott gegeben hinnehmen.

 

Ich beschieße die Andacht mit einem Lied aus Taize. "Magnificat, magnificat anima mea Dominum" (Erhebe, erhebe, meine Seele, den Herrn!)

Es ist lateinisch und klingt damit alt; echt mittelalterlich. Tatsächlich ist es aber jung und echt Neuzeit, aus der französischen Kommunität Taize, in der alles irgendwie ganz unmodern gemacht wird. Wo alle Gottesdienste still und liturgisch sind, die Unterkünfte spartanisch einfach und eben die meisten Lieder Lateinisch.

Und junge Menschen strömen jedes Jahr zu Tausenden dort hin, um Glauben zu finden und miteinander zu leben. Manchmal ist uns das Gute des Mittelaters so nah.

 

P.S.: Zum Kirschblütenfest kamen zwischen 3500 und 4000 Besuchern zur Familienkommunität Siloah; sie besuchten Gottesdienste und Andachten, hörten geistliche Gesänge und sahen Theaterstücke aus dem Leben von Heiligen. So erlebten sie auf einem „ganz normalen“ Mittelaltermarkt das Evangelium.

Johannes Fähndrich ist Pastor der efG Neustrelitz und im GJW Mecklenburg-Vorpommern. Außerdem ist er Gründungsmitglied der christlichen Mittelaltergruppe „Porta Vitae“

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