Mittelalter in der Neuzeit
von Johannes Fähndrich
Was haben wir
heute mit den Christen im Mittelalter gemeinsam - was können wir von ihnen
lernen? Ein Erlebnisbericht.
Ich bin auf dem „Mittelalterlichen Blütenfest“ der christlichen Lebensgemeinschaft Siloah in Thüringen. Mit unserer Mittelaltergruppe „Porta Vitae“ waren wir schon einige Male hier, haben vor Jahren mitgeholfen, das historische Konzept des Festes zu entwickeln und darüber in der Kommunität Siloah einige liebe Freunde gefunden.
Ich entscheide
mich, bei der Lebenswirklichkeit der mittelalterlichen Menschen zu beginnen.
Jeder Mitarbeiter solle sich überlegen, aus welchem Stand er stammt, wie er geboren
und aufgewachsen ist. Die Tätigkeit, die er beim Fest ausüben soll, hilft ihm
dabei, seine Rolle zu finden. Denn wer etwas organisiert, der wird er aus einer
Kaufmanns- oder Verwalterfamilie stammen. Soll jemand beim Fest die Mülleimer
ausleeren und für Ordnung auf dem Platz sorgen, so ist er Knecht oder Magd und
kommt aus einer Bauern- oder Leibeigenenfamilie. Und diese Herkunft bestimmte
das ganze weitere Leben. Ob nämlich man irgendwo ins Stroh geboren wurde,
vielleicht von einer alten heilkundigen Frau begleitet oder im Steinhaus in ein
Bett, an dem die Heb-Amme diente, die Lebensumstände waren zwar für alle hart –
aber dabei auch sehr unterschiedlich.
Die verschiedenen Stände konnten Wand an Wand wohnen, ohne je im Leben ein
privates, d.h. nicht durch Dienstaufgaben erforderliches Wort miteinander zu
wechseln. Was dabei das Angenehmere war, ist nicht immer leicht zu sagen: ob
das Lehmhaus, wo sich im einzigen Raum neben der ganzen Familie mit drei
Generationen auch das einzige Schwein und die Ziege befanden - und die
Feuerstelle! Oder die Burg, die für uns heute Inbegriff der Ritterlichkeit und
Romantik ist und natürlich Herrschaftssitz - aber im Winter auch empfindlich
kalt, oft auch nur mit einem beheizbaren Raum, der „Kemenate“ („Kamin-ate“). Von
den anderen Räumen wurden deshalb oft die Fenster zugenagelt. Und so war es
dann zwar immer noch kalt, aber außerdem noch dunkel und stickig.
Bei jedem
mittelalterlichen Menschen wären im Verlauf des Winters einige Bekannte und
Verwandte verstorben. Einige Alte und einige Kinder. Wer das zehnte Lebensjahr
erreicht hatte, der hatte schon einmal etwas geschafft. Danach konnten die
Leute durchaus ein gutes Alter erreichen.
Und so feiern die
Leute des Mittelalters den Frühling und Gott, der den Frühling schenkt. Aber
sie begegnen sich auf dem Markt auch mit allen Standesunterschieden.
Rauhe Zeiten also,
und ich ermutige die Freiwilligen, das während des Blütenfestes auch mit
weiteren Gesten zu unterstreichen: wem jeweils danach ist, der möge in seiner
Rolle auf den Weg spucken oder sich am Hintern kratzen. Das Marktpublikum wird
zunächst irritiert sein und es dann als „echtes Mittelalter“ dankbar zur
Kenntnis nehmen.
Rauhe Zeiten und
rauhe Sitten im Mittelalter - aber gerade darin können wir etwas von unseren
Vorfahren lernen, gerade das kann uns Hoffnung geben: dass die Menschen es
überlebt haben. Und das Jesus die Geschichte weitergeführt hat. Trotz
Völkerwanderungen und Wikingerüberfällen, durch Hungersnöte und Pestzeiten hat
Gott den Menschen weitergeholfen - und sie haben das Vertrauen auf ihn bewahrt.
Ein jeder von uns hat Vorfahren, die im Glauben auf Gott ihr Leben gemeistert
haben; und das gehört zu unserem geistlichen Erbe.
Gott ist der
Schöpfer, heilig, gerecht und gut. Wir Menschen sind unfähig, Seinen Willen zu
erfüllen und deshalb verloren. Deshalb ist Jesus Mensch geworden, unser
Erlöser, gestorben und auferstanden, der Tod und Teufel die letzte Macht
genommen hat. Und wir gewinnen durch Buße Vergebung, geleitet durch Gottes
Geist und die Heilige Schrift - alles das galt im
Mittelalter als Tatsache.
Fakten, nicht
Meinungen. Das ganze Leben, im Öffentlichen wie im Privaten, war davon
durchzogen und wesentlich bestimmt.
Auch falls man
einen Mönch trifft bekreuzigt man sich. Er sagt dann „Pax Vobiscum“ (Friede sei
mit euch) und wir antworten „Et cum spiritum tuo“ (Falls ein Knecht oder Bauer
kein Latein kann, was er ja wirklich nicht können muss, murmelt er wenigstens
„Etcommmimimibubo“ - das hörts sich ähnlich genug an und macht immerhin einen
guten Eindruck.)
Und natürlich
gehört zur Eröffnung des Blütenfestes auch die Segnung des Marktes, der Dank
und die Bitte an Gott, dass er gelegenes Wetter, Schutz und guten Umsatz geben
möge! Auch wenn das leider nur auf wenigen Mittelaltermärkten der Neuzeit so
praktiziert wird – bei unseren Vorfahren wäre es so gewesen!
Ohne Frage hat es
im Mittelalter auch geistliche Fehlhaltungen und Auswüchse gegeben. Es gab
irrwitzigen Aberglauben, übertriebene Höllenfurcht und große Tendenzen, Buße
und Heiligung als Leistung zu verzwecken. Auch viel Dummheit und
Obrigkeitsdenken.
In meiner Andacht
für die Helfer mache ich auch das deutlich. Als ich davon spreche, dass jeder
von uns im Mittelalter gleich nach der Geburt getauft worden wäre, halte ich
inne. Ich mache einen „Schritt zur Seite“ und sage den Zuhörern, dass ich damit
meine Rolle verlasse und „in die Neuzeit trete“. Als Baptistenpastor kann ich
dieser Taufpraxis natürlich gar nichts abgewinnen. Die Bibel lehrt uns anderes.
Vieles von der
Frömmigkeit unserer Vorfahren ist uns mindestens so fremd wie der Glaube
Griechisch-Orthodoxer Christen. Aber gerade das ist ja spannend. Und gerade
davon können wir auch lernen. Wo wir nämlich unsere Lieblings(stecken)pferde
reiten und unsere Frömmigkeit zu neuzeitlich-harmonisch oder individualistisch
ist.
Mindestens dieses
können wir von unseren mittelalterlichen Vorfahren lernen: harte Zeiten
geduldig zu überstehen und den Glauben als selbstverständlich und von Gott
gegeben hinnehmen.
Ich beschieße die
Andacht mit einem Lied aus Taize. "Magnificat, magnificat anima mea
Dominum" (Erhebe, erhebe, meine Seele, den Herrn!)
Es ist lateinisch
und klingt damit alt; echt mittelalterlich. Tatsächlich ist es aber jung und
echt Neuzeit, aus der französischen Kommunität Taize, in der alles irgendwie
ganz unmodern gemacht wird. Wo alle Gottesdienste still und liturgisch sind,
die Unterkünfte spartanisch einfach und eben die meisten Lieder Lateinisch.
Und junge Menschen
strömen jedes Jahr zu Tausenden dort hin, um Glauben zu finden und miteinander
zu leben. Manchmal ist uns das Gute des Mittelaters so nah.
P.S.: Zum
Kirschblütenfest kamen zwischen 3500 und 4000 Besuchern zur Familienkommunität
Siloah; sie besuchten Gottesdienste und Andachten, hörten geistliche Gesänge
und sahen Theaterstücke aus dem Leben von Heiligen. So erlebten sie auf einem
„ganz normalen“ Mittelaltermarkt das Evangelium.